Die Nomadin. Die brasilianische Künstlerin Cristina Barroso

english | portuguese | deutsch

 

Monika Unkelbach

Meist großformatige farbenfrohe Bildkompositionen zeigen vor dem Hintergrund topografischer Länder- oder Städtekarten Planetensysteme, Figuren und Strukturen. Entstanden sind sie durch Übermalungen, collagierte Schichten aus Zeitungs- und Städtefotos, Sternenkarten und vielem mehr, das die Künstlerin sammelt, um mit ihren Arbeiten Bildwelten zu schaffen, die ein neues Raum-/Zeitgefühl vermitteln. Cristina Barroso lebt und arbeitet in Stuttgart, aber in ihren Werken und ihrem Wirken gibt es keine Grenzen. Kontinente gehen eine Verbindung mit Gestirnen ein und die Künstlerin reist um die Welt, weil nur eines ihre Inspiration lähmt: Gewohnheit.

Als kleines Mädchen hat Cristina vor dem Einschlafen oft das Gefühl, sie liegt in ihrem Bett, wächst und wird größer als ihr Haus, um kurz darauf auf Ameisengröße zu schrumpfen. Es ist dieses einzigartige Gefühl des ganz Großen und des Winzigkleinen, dem sie mithilfe der Malerei nachspürt. Die unterschiedlichen Blickwinkel, die sich aus den gegensätzlichen Perspektiven von Mikro- und Makrokosmos ergeben, finden in ihren Arbeiten ihren Ausdruck.

Die Malerei ist eine Konstante im Leben der 1958 in São Paulo geborenen Künstlerin, aber bis sie ihren Weg findet, vergehen Jahre. Mit 17 Jahren reist Cristina Barroso zu ihrem Onkel nach Chicago, um dort Englisch zu lernen. „Ich kam im Winter an und sah das erste Mal Schnee. Es war alles neu und so inspirierend, dass ich acht Jahre blieb“, erzählt sie. Cristina schreibt sich an der Southern Illinois University für die Fächer Philosophie und Geschichte ein. Zufällig findet sie in der Bibliothek eine Broschüre des San Francisco Art Institute. Wie so oft im Leben genau zum richtigen Zeitpunkt. „Ich habe schon so weit ich zurückdenken kann gemalt, und als mir die Broschüre in die Hand fiel, wusste ich, dass es Zeit war, meinem Leben eine neue Richtung zu geben“, erzählt Barroso.

Sie beginnt ihr Studium der Malerei im Jahr 1980 und schafft es schnell, eine ganz eigene Bildsprache, einen eigenen Ausdruck zu entwickeln. „Es war, als wären die Bilder schon in mir und hätten nur darauf gewartet, dass ich sie male“, erzählt die 57-Jährige. In einem zum San Francisco Art Institute gehörenden Atelier mit Blick auf Alcatraz vollendet sie die Arbeiten, die sie in ihrer ersten Einzelausstellung in der Diego Rivera Gallery zeigt. Eine Reihe von Einzel- und Gruppenausstellungen folgen und die Künstlerin wird mehrfach ausgezeichnet. Von Beginn an stehen Karten im Fokus ihrer Arbeiten. Cristina Barroso liebt sie aufgrund ihrer Farben und der Fülle von Informationen, die sie beinhalten. „Wenn ich eine Straßenkarte neben eine Sternenkarte lege, wird mir die Dimension unseres Planeten bewusst. Das erdet mich und lässt mich auch die Spanne meines Lebens in einem neuen Licht sehen“, erklärt die Malerin.

Mit Schelllack, pulversiertem Asphalt und Wachs erzeugt sie neue Topografien. Zahlen, Schriften, Bilder schaffen konzeptionelle Zusammenhänge. Für eine Auftragsarbeit f ür das Landesvermessungsamt in München teilt sie eine Karte von Bayern in fünf Teile und übermalt sie mit Magnetfeldern aus Acryl. Die im Mittelpunkt der Gemälde stehenden Kürzel für Nord und Süd dienen als Hinweis auf die Kartographie als menschliche Orientierungssysteme.

Im Jahr 1992 erhält Cristina Barroso ein Atelierstipendium der Göppinger Baumann-Stiftung und landet schließlich in Stuttgart, wo sie ihre Arbeiten unter anderem in der Ausstellung Magie der Zahlen in der Staatsgalerie vorstellt. Auch im Institut für Auslandsbeziehungen (ifa), im Süddeutschen Rundfunk, in der Galerie Harthan und anderen Stuttgarter Ausstellungsräumen sind ihre Werke zu sehen. In der Landeshauptstadt lebt sie mit ihrem Mann und ihrem 14-Jährigen Sohn und arbeitet in einem Kunstloft in der Reitzensteinstraße, wo sich 15 Künstler und Künstlerinnen zu den „Reitzensteinern“ zusammengeschlossen haben. An ihrer Wahlheimat liebt die Brasilianerin die Ruhe und die großartige Vielfalt an Galerien und Museen in der Stadt und dem Umland. Aber das ist nicht alles. „Es gibt Städte, die sind wie Magneten. Sie vermitteln das Gefühl, dass man etwas Substanzielles verliert, wenn man sie verlässt“, erzählt die Künstlerin und ergänzt, „mir ging es so in Berlin und São Paulo. Stuttgart ist eine Stadt, die ich loslassen kann, wenn ich gehe, und die mich bei meiner Rückkehr freundlich zurück empfängt.“

Loslassen muss Barroso Stuttgart häufig. Ausstellungen und Kunstmessen führen sie unter anderem nach São Paulo, Potsdam, Miami, London und Los Angeles. Sie u überschreitet Grenzen und pendelt zwischen den Kontinenten. Ein Leben, das die Nomadin liebt und das in ihrer Arbeit seinen Ausdruck findet.

Monika Unkelbach, “Die Nomadin. Die brasilianische Künstlerin Cristina Barroso”, im: Interkultur Stuttgart, Okt. 2015, p. 20.

Die Reitzensteiner sind eine Gruppe von Künstlern, die 1991 in der Reitzensteinstraße Atelierhäuser nicht als Mieter sondern als Bauherren bezogen. Das war bis dahin nicht nur in Stuttgart einzigartig, sondern wurde auch zu einem Pilotprojekt bundesweit.